Rede Oberbürgermeister Jan Einig

Beitragsbild: H. Tsanakidis

Rede OB Jan Einig

 

Es gilt das gesprochene Wort 

ANREDE                                                                                                                                                     

Heute gedenken wir den Opfern des Nationalsozialismus. Wir denken an die Ermordeten des Holocaust. Wir teilen den Schmerz und die Trauer.

(Pause)

Und wir fragen uns: Dieser unbeschreibliche Hass, diese Entmenschlichung – kann sich das wiederholen? Ich fürchte, auch schreckliche Verbrechen können erneut begangen werden. Können wir also nicht aus der Geschichte lernen? Doch! Ich bin überzeugt, dass dies möglich ist. Es bedarf dazu einer konsequenten und bewussten Aufarbeitungs- und Erinnerungskultur.

Erinnern: Das tun wir heute gemeinsam. Weltweit. Die Erinnerung begleitet uns aber nicht nur heute. Die Shoah, der Völkermord an den Juden, liegt in der Vergangenheit, er muss uns jedoch immer gegenwärtig bleiben. Uns auf diese Verpflichtung zu besinnen, ist ein Anliegen des heutigen Tages. Die Verbrechen an der Menschheit und der Verrat der Menschlichkeit dürfen nicht vergessen werden.

Seit 1996 gibt es den Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus in Deutschland, 2005 wurde der 27. Januar durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“ erklärt. Bundespräsident Roman Herzog erläuterte seinerzeit, das Gedenken beziehe sich auf all jene Menschen, die “einer willkürlich definierten Rasse angehörten oder sonst wie vom willkürlich festgelegten Menschenbild abwichen“. Opfer der Nationalsozialisten wurden durch solch eine willkürlich festgelegte Hierarchisierung unter anderem auch behinderte und homosexuelle Menschen, nicht angepasste Jugendliche, Sintize und Sinti sowie Romnia und Roma. Sie wurden aus ihrer Heimat gerissen und deportiert, eingesperrt, als Arbeitssklaven ausgebeutet, gefoltert und ermordet.

77 Jahre ist es her, dass das Massenvernichtungslager Auschwitz durch sowjetische Truppen befreit wurde. Etwa 7.000 Überlebende fanden die Soldaten vor. Mehr als eine Million Menschen waren zuvor im KZ Auschwitz getötet worden. Das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz wurde zum Symbol für das Böse. Der Name „Auschwitz“ steht für das größte Leid, das Menschen jemals gezielt und geplant verursacht haben. Und doch kommt es immer wieder vor, dass Gräueltaten der Nationalsozialisten geleugnet oder mit anderen Ereignissen verglichen werden. Dass auch 77 Jahre nach der Befreiung Auschwitz‘ noch deutsche Gerichte bemüht werden müssen, um solche widerlichen Vergleiche zu unterbinden, ist ein unglaublicher Vorgang. Nichts ist mit der Shoah vergleichbar.

Auch deshalb muss jeder einzelne von uns eine unmissverständliche Haltung dazu haben. Das liegt in unserer Verantwortung. Wir sind nicht verantwortlich für die Verbrechen im Nationalsozialismus. Aber wir alle sind verantwortlich für das, was ist, und für das, was wird. Wir sind verantwortlich, unsere Demokratie zu schützen. Wir sind verantwortlich, unseren Nächsten zu schützen. Und wir sind verantwortlich, die Zukunft zu schützen.

Deutschland zählt zu Vorbildern der Demokratie, zu Vorbildern, wenn es um Menschenrechte geht. Zugleich wird Deutschland ewig verknüpft sein mit seinem vergangenen Jahrhundert, mit der scheußlichsten, akribisch geplanten Verletzung der Menschenrechte, die in ihrer systematischen Grausamkeit jegliche Vorstellungskraft übersteigt. Wie kann man einen derartigen Widerspruch ertragen?

Ich glaube, das ist möglich. Wenn wir täglich daran arbeiten, diese schreckliche Vergangenheit in eine gute Zukunft zu führen. Wenn wir nicht vergessen, sondern aufklären und erinnern. Wenn wir einander zuhören. Und nicht zuletzt ist dies möglich, weil es Menschen gibt, die ihre Biografie immer und immer wieder erzählen und sich für unser Erinnern immer wieder ihrer eigenen traumatischen Erinnerung aussetzen. Weil es Menschen wie Trude Simonsohn gibt, die in zwei Konzentrationslagern war, die Hölle erlebte, geliebte Menschen verlor – und sich die Menschlichkeit bewahrte.

„Ich habe kein Talent zum Hassen“, sagte sie. Heute vor drei Wochen starb Trude Simonsohn. Sie wurde hundert Jahre alt. Gemeinsam mit allen Zeitzeugen, die es auf sich nahmen, für unsere Zukunft ihre Geschichte zu erzählen, hinterlässt sie uns die Aufgabe, ihre Erinnerung lebendig zu halten. Ich danke Ihnen, dass Sie diese Pflicht mittragen – heute an dieser Stelle und in der Zukunft.

Herzlichen Dank.

5. Februar 2022