Rede zum Holocaust-Gedenktag 2023

Sehr geehrte Damen und Herren,

Liebe Freunde und Freundinnen von Amnesty International,

Wir gedenken heute der Opfer des Nationalsozialismus und der Shoa. Aber lassen Sie uns nicht nur an die Toten erinnern, sondern denken wir auch an diejenigen, die das Grauen überlebt haben.

Diese sind, falls sie heute noch leben, und das sind leider nur noch wenige, von den erlittenen Qualen im KZ schwer gezeichnet. Margot Friedländer hat dazu in Ihren Erinnerungen geschrieben: „Sie mussten erst wieder lernen, dass sie Menschen waren. Menschen, die einen Namen hatten.“ – Es ist schwer für die Überlebenden der Shoa zu verzeihen und nicht misstrauisch gegen jedermann zu werden. Margot Friedländer hat das geschafft. Sie ist positiv geblieben, sie ist ein Menschenfreund geblieben. Sie ist aus ihrem Exil in New York zurückgekehrt nach Berlin, nach Deutschland! – in das Land der Täter. Damit, was geschehen ist, auch wirklich ‚Nie wieder!‘  passiert, teilt sie ihre Erinnerungen mit uns. Sie will den jungen Menschen, die Hand reichen und spricht in Schulen über ihre Erlebnisse. Margot Friedländer, die vor wenigen Tagen mit dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse ausgezeichnet wurde,  mahnt uns, heute alles dafür zu tun, dass ein ‚Nie wieder‘ wirklich wahr werden kann. Dafür hat sie ein Vermächtnis an die junge Generation formuliert: „Für Euch, für die Demokratie: Seid Menschen!“ Seid Menschen, denn wenn Ihr Menschen seid, könnt Ihr keine Antisemiten werden! Respektiert alle Menschen! wir sind alle gleich!“ (Margot Friedländer)

Die Konsequenz für uns formuliert Angela Merkel wie folgt: „Wir müssen die Erinnerung pflegen und wachhalten. Wir müssen uns entschieden gegen Intoleranz und Hass, gegen Rassismus und Antisemitismus, gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wenden. Wir tragen Verantwortung dafür, dass sich alle Menschen bei uns in Deutschland und Europa sicher und zu Hause fühlen können“.

In ihrer Rede, die Angela Merkel 2020 zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz am 27. Januar 2020 in Berlin hielt, berichtet sie von der Aussage einer Künstlerin, die die Shoah überlebt hatte: „… am 16. April 1945, genau einen Tag nachdem britische Truppen das Konzentrationslager Bergen-Belsen befreit hatten, gab die damals 19-jährige Anita Lasker der BBC ein Interview. Sie hatte zusammen mit ihrer Schwester Renate Bergen-Belsen überlebt – und zuvor auch die Hölle von Auschwitz. Darüber sagte sie in dem Interview: „Die Häftlinge, die wenigen, die geblieben sind, fürchten alle, dass die Welt nicht glauben wird, was dort geschehen ist. […] Ich selbst befand mich in der Musikkapelle. Zu den furchtbarsten Dingen wurde Musik gemacht.“

Wie konnte es an einem solchen Ort des Grauens Musik geben? Eine zutiefst verstörende Ambivalenz. 73 Jahre später, am 31. Januar 2018, fand Anita Lasker-Wallfisch, inzwischen 92 Jahre alt, für diese Ambivalenz in ihrer Rede vor dem Deutschen Bundestag folgende Worte: „Für viele war Musik in dieser Hölle eine absolute Beleidigung, für manche vielleicht eine Möglichkeit, sich für Momente in eine andere Welt zu träumen.“ Diese Worte geben Zeugnis von dem Grauen des von Deutschland begangenen Zivilisationsbruchs der Shoa. Für Anita Lasker-Wallfisch waren die Musik und ihr Cello-Spiel in der Lagerkapelle Birkenau eine Geschichte des Überlebens.

Kunst kann nicht nur den betroffenen Menschen ermöglichen ein solches Erlebnis irgendwie zu überleben, sie kann auch uns, den nachfolgenden Generationen helfen, zu erinnern. Musik kann uns helfen, uns in Situationen zu versetzen, uns einzufühlen. So können wir uns beispielsweise anhand dramatisch klingender Musik in das Szenario hineindenken. So erinnere ich mich persönlich an die diese Szene im Film ‚Schindlers Liste‘, in der das Ghetto geräumt wird und das Lied von Elvis Presley ‚In the Ghetto!‘ erklingt – mir lief beim Ansehen ein kalter Schauer über den Rücken. So bringt uns Musik dazu, dass wir viele entscheidende Momente in der Geschichte besser verstehen, wenn wir es schon nicht begreifen können.

In Ausschwitz fanden Millionen von Menschenleben ein brutales und trauriges Ende. Darunter, waren neben den vielen Menschen jüdischen Glaubens auch Widerstandskämpfer, aber auch viele Künstler, Musiker, Philosophen und Schriftsteller, deren Werke von den Nationalsozialisten als ‚entartet‘ verschmäht und aus den Museen verbannt wurden.  Von einigen bleibt uns wenigstens eine Erinnerung zurück – Literarische Werke oder komponierte Musikstücke, die uns näher an sie und ihre Lebensgeschichte bringen. Von den meisten Menschen, die einfach nur deshalb dort waren, und sterben mussten, weil sie keine ‚Arier‘ waren – wissen wir nicht viel! – Wir kennen wir nur ihre Namen, weil sie in der Gedenkstätte „yad vashem“ verewigt sind. Die Werke von Zeitzeugen erinnern uns auch an ihre Geschichte – es gilt, die Erinnerung wach zu halten – an Alle!

Erinnerung ist ein wichtiges Werkzeug für den Erhalt der Demokratie; denn sie bleibt uns nur erhalten, wenn wir uns die Erinnerung bewahren und aus der Geschichte lernen. Gehen wir deshalb nun gedanklich zurück in jene Tage im Mai 1933 – einige Monatenach der Machtergreifung Hitlers und der Nationalsozialisten: Wenn die Meinungsfreiheit eingeschränkt ist, öffentliche Reden mit Zuchthaus bestraft werden und Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller mit Publikationsverboten belegt werden, ist das erste Warnsignal hell erleuchtet! – hier beginnt die Demokratie zu sterben!

Bücher sind in gewisser Weise heilig! – man wirft keine Bücher weg, und schon gar nicht verbrennt man sie! Ihre Verfasser, haben in gewisser Weise ein Stück ihrer Seele zusammen mit ihrem Wissen und ihren Gedanken in ihnen verewigt. Wenn ihre Bücher verbrannt werden, so stirbt auch in gewisser Weise ein Stück von ihren Verfassern mit.

Am 10. Mai 1933, wenige Monate nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, kam es in fast allen größeren Städten Deutschlands zu organisierten und meist systematisch vorbereiteten Bücherverbrennungen. Doch anders als viele Menschen denken, wurden sie nicht von der NSDAP oder einem Ministerium organisiert, sondern von der Deutschen Studentenschaft, die sich, so vermuten Wissenschaftler, den Nazis andienen wollten. Schon Anfang April forderte die Deutsche Studentenschaft ihre Organe auf, sich an der vierwöchigen „Aktion wider den undeutschen Geist“ zu beteiligen, an deren Ende die Bücherverbrennungen in den meisten Universitätsstädten standen. Als Kooperationspartner für die Aktion hatte sie den „Kampfbund für deutsche Kultur“ gewonnen, der sie vor allem bei der Auswahl der zu verbrennenden Bücher unterstützte.  Die Aktion begann in den Universitäten am 12. April mit dem Plakat „12 Thesen wider den undeutschen Geist“, in dem vor allem jüdische, sozialdemokratische und liberale Ideen und ihre Vertreter verhöhnt wurden.  Ab dem 26. April wurden die Universitäts- und Institutsbibliotheken nach „verbrennungswürdiger“ Literatur durchforstet. Auch öffentliche Bibliotheken außerhalb der Universität wurden durchsucht und so manch eine Buchhandlung geriet in den Blick der Eiferer. Grundlage für die Auswahl der Literatur bildete die am 26. April 1933 verschickte „Braune Liste verbrennungswürdiger Literatur“ mit 71 Autorennamen. Diese Aufstellung basiert auf den „Schwarzen Listen“, die der Bibliothekar Dr. Wolfgang Hermann im Auftrag des Verbandes Deutscher Bibliothekare und des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda schon im März 1933 erstellt hatte. Die Ergebnisse der Büchersammelaktionen wurden am 10. Mai zu Scheiterhaufen aufgeschichtet, die im Mittelpunkt der Bücherverbrennung standen. Mit einem Fackelzug und ggf. im Ornat ihrer Verbindungen oder in Parteiuniform machten sich die Studenten am 10. Mai auf den Weg zum Scheiterhaufen. Hier erwartete sie zunächst ein öffentlicher Vortrag, in Berlin wurde er von Joseph Goebbels gehalten, in den anderen Städten von Professoren der jeweiligen Universität. Unter großem Gejohle der Studenten und eines breiten Publikums aus der Stadt wurden zum Abschluss des Abends die Bücher in Brand gesteckt. Ein Zeitzeuge berichtet: „Das Beste, Klügste, Humanste, das deutsche und internationale Kunst und Wissenschaft hervorgebracht hat, ging unter dem Gejohle einer aufgepeitschten Menge in Flammen auf. Zumeist unter diesem Ausruf: „Ich übergebe dem Feuer die Schriften von … “ Nicht nur Ihre Werke verbrannten, auch Dichter*innen und Wissenschaftler*innen selbst wurden auf vielfältige Art bald Opfer der Hitlerbarbarei!“ 

Zu den Universitäten, die die Bücherverbrennung bereits am 10. Mai durchführten, gehören neben Berlin, Bonn, Braunschweig, Bremen, Breslau, Marburg, Münster, München,um nur einige zu nennen. Was für manch einen Studenten und Professor sicher den Startpunkt für eine Karriere im Nationalsozialismus bedeutete, hieß für viele Autoren und Künstler das Ende ihres künstlerischen Schaffens. Viele überlebten in der Emigration, fanden dort jedoch nie wieder die Kraft an ihr früheres Werk anzuknüpfen. Manche sahen keinen anderen Ausweg als den Freitod und hinterließen ein unvollständiges Werk, das zu großen Hoffnungen Anlass gegeben hatte. Dazu gehören heute bekannte Autoren wie Kurt Tucholsky, Stefan Zweig, Klaus Mann, Bertolt Brecht und Erich Kästner. Manche von ihnen sind vergessen wie Hermann Essig, Alexandra Kollontay, Emil Ludwig und Werner Türk, ihre Namen findet man nur noch auf den Listen der verbrannten Bücher und oftmals ist es nicht mehr möglich, das Werk oder auch nur einzelne Bücher zu bekommen. Trotz des Einsatzes zahlreicher bekannter Künstler im Ausland, die in New York und in anderen Städten zu Demonstrationen gegen die geplanten Bücherverbrennungen aufgerufen hatten, gelang es nicht, die nationalsozialistisch orientierte Studentenschaft von ihrem Vorhaben abzubringen. Aus den Niederlanden ist bekannt, dass am Tag der Bücherverbrennung Radio Hilversum Auszüge aus den verbotenen Büchern sendete. In Prag wurde zu einer Sammlung der Bücher für eine Ausstellung aufgerufen. Diese Sammlung wurde ebenso wie die in Paris errichtete „Freiheitsbibliothek“ von Alfred Kantorowicz nach dem Einmarsch der deutschen Truppen zerstört, sodass es bis heute keine vollständige Bibliothek der verbrannten Bücher gibt. Was bleibt ist der der 27. Januar als eine jährliche Erinnerung daran, dass in Deutschland der Satz von Heinrich Heine „Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“ Wirklichkeit wurde.

30. Januar 2023